Wie leben Gehörlose ohne Musik?

Kurze Antwort: Ganz normal. Nur eben ohne Musik.

Von Geburt an gehörlose Menschen vermissen in den meisten Fällen Musik überhaupt nicht. Es kann für sie durchaus interessant sein, sich Konzerte oder Discos anzuschauen, wenn die Musik besonders basslastig ist. Durch den Bass können Gehörlose die Musik auch spüren und entsprechend auch tanzen. Spätertaubte und Schwerhörige haben eher einen Bezug zur Musik und können sie entsprechend auch vermissen.

Foto: Bernard Bodo / Envato Elements

Neben Untertiteln können auch Dolmetscher:innen dafür sorgen, dass Musik für Gehörlose und gebärdensprachige Schwerhörige zugänglich ist. Seit einigen Jahren organisiert der NDR die gebärdensprachliche Version des Eurovision Song Contest, bisher vor allem im Online-Stream. Die ausrichtenden Länder haben oft auch eine Version in Gebärdensprache, manchmal sogar internationale Gebärden organisiert. Dabei gibt es verschiedene Ansätze: Es kann versucht werden, die Idee hinter dem Songtext in eine poetische Gebärdenform zu übertragen, oder aber man kann dem Takt und der Zeilenlänge folgen. Oft werden auch Instrumente zusätzlich visualisiert. Im Idealfall — um möglichst viel von der Musik zu transportieren — kombiniert eine gute Übersetzung all diese Elemente. Manchmal gibt es auch Musikvideos mit Celebrities, die Gebärdensprache gelernt haben, wie etwa das Video mit Johnny Depp und Natalie Portman, in dem sie „My Valentine“ von Paul McCartney gebärden. Solche Ansätze sind im Prinzip lobenswert, aber haben das große Problem, dass die Darsteller:innen meist vor allem die passenden Handbewegungen einstudieren und ansonsten die Gebärdensprache nicht beherrschen. Das kann man vor allem an der ausdruckslosen Mimik sehen. Da lohnt sich ein Vergleich mit den Gebärdensprachversionen der Eurovision-Lieder.

Daneben ist der Musikgenuss genauso individuell wie die Gehörlosigkeit oder das Taubsein selbst. Manche haben Spaß daran, das Wochenende im Berliner Technoclub Berghain durchzufeiern, manche gehen auch auf verdolmetschte Konzerte, manche setzen sich Kopfhörer auf und spüren den Bass oder hören mit Restgehör, was sie an Musik hören können. Pauschale Aussagen lassen sich hier nicht treffen. Der Musiker Signmark oder die Rapperin Deaf Kat Night sind eher Ausnahmen, sie sind beide taub und produzieren ihre Musik direkt in Gebärdensprache. Sowieso ist es schwierig, die gebärdensprachliche Welt mit der Lautsprache zu vergleichen: Gehörlose haben ganz andere Erlebniswelten. So lehnen auch manche Gebärdensprachkünstler die Bezeichnung „Gebärdensprachpoesie“ ab, weil es sich dabei um ein Konzept handelt, das sich an Lautspruch-Poesie orientiert, mit Reimen und Zeilenstrukturen, die es so in der Gebärdensprache gar nicht geben kann. Vielmehr brauche es für einen poetischen Ausdruck in Gebärdensprache ein eigenes Konzept — etwa „Visual Vernacular“. Wie so ein Konzept für Musik aussehen könnte, ist die andere Frage. Aber vielleicht ist Visual Vernacular auch Musik in Gebärdensprache?

Wahrscheinlich ist es einfach so, dass in Gebärdensprache übersetzte Musik eine Brücke schlägt: Die Musik ist für die Hörenden zugänglich, gleichzeitig sehen sie die Gebärden. Ebenso haben auch die Gehörlosen etwas von der Musik, wenngleich Musik an und für sich ihrer Kultur völlig fremd ist.

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