Warum können Gehörlose nicht richtig schreiben?

Dafür gibt es mehrere Gründe, von denen mehrere oder auch nur einer vorliegen kann. Da gibt es zum Einen die Vernachlässigung der sogenannten Kritischen Phase des Spracherwerbs, aber zum Anderen auch die schlechte schulische Bildung.

Das Bild dient nur als dekoratives Element und zeigt drei Personen beim Schreiben auf einem gemeinsamen weißen Tisch.
Foto: Pressmaster / Envato Elements

Diese beiden Faktoren sind wahrscheinlich die wichtigsten und ausschlaggebendsten. Die Kritische Phase bezeichnet die ersten Lebensjahre eines Kindes, in denen es das erste Mal in Berührung mit Sprache kommt. Auch wenn es selber noch nicht sprechen oder gebärden kann, nimmt es doch die Sprache aus der Umgebung auf. Das trägt wesentlich dazu bei, dass das Kind selber Sprachkompetenzen entwickelt und formt letztendlich auch das Denken des Kindes. Wissenschaftler:innen haben herausgefunden, dass Kinder, welche die Kritische Phase sozusagen verpassen, später auch Schwierigkeiten mit Fremdsprachen haben. So wäre es für Gehörlose, die in der Kritischen Phase keinen Kontakt zur Gebärdensprache hatten nicht nur so, dass Schriftdeutsch eine Fremdsprache ist für sie, sondern auch noch eine Fremdsprache, die sie nicht richtig beherrschen können. So haben viele Gehörlose, welche die Schriftsprache gut beherrschen, entweder gehörlose Eltern oder sind nach dem Spracherwerb ertaubt. Das heißt, sie haben entweder eine voll ausgebildete Gebärden-Muttersprache oder eine Laut-Muttersprache. Letztere haben dabei noch den Bonus, dass sie die mündliche Variante der Schriftsprache (leichter) beherrschen (können).

Der andere große Faktor ist die Schule. An fast allen Schulen in Deutschland ist Gebärdensprache seit dem Mailänder Kongress von 1880 verboten. Das hatte katastrophale Folgen für die Gehörlosen: Der Unterricht fand in einer Sprache statt, die sie nicht verstehen, der Lautsprache.

Zu allem Unglück wurde an den heute wohl Förderschulen genannten Taubstummenanstalten auch noch ein großer Schwerpunkt auf die richtige Aussprache gelegt, mit dem Ziel, den Gehörlosen so normal wie möglich erscheinen zu lassen. Ob der Schüler versteht, was andere sagen, war dabei sehr egal. Auf der Strecke blieben Inhalte und natürlich die Gebärdensprache selbst. Schläge auf die Hand als Strafe für Gebärden im Unterricht waren keine Seltenheit, sondern grausame Realität.

Die schlechten Assoziationen, die Gehörlose durch die Schule zum Lesen und zum Lernen haben, können zudem zu einem Widerstand gegen das Lernen führen. Wer keine angenehmen Erfahrungen mit Büchern gemacht hat, wird auch keine lesen wollen. So ist auch die Fähigkeit zur selbstständigen Weiterbildung stark beeinträchtigt.

Auch an heutigen Förderschulen wird immer noch nicht gebärdet. Erst kürzlich hat eine Schülerin einen Gerichtsprozess gewonnen: Sie kriegt Kostenerstattung für ihre Gebärdensprachdolmetscher:innen an der Förderschule. Und das, obwohl diese Schulen eigentlich auf die Bedürfnisse der Gehörlosen ausgerichtet sein sollten. Sowieso sind diese Schulen ein Auslaufmodell: Sie sollen langfristig abgeschafft werden und stattdessen alle Schüler mit entsprechender Hilfe, also in diesem Fall Gebärdensprachdolmetscher:innen, die Regelschule besuchen können.

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