Gehörlose können von den Lippen ablesen.

Das stimmt nicht. Ein einfaches Beispiel: Die Wörter „Butter“ und „Mutter“ haben genau das gleiche Mundbild. Genauso ist es mit vielen anderen Wörtern. Auch wenn manche Menschen behaupten, alles oder vieles ablesen zu können, sind in Wirklichkeit nur etwa 30 % der Wörter ablesbar. Dabei sind die 30 % nur ein ungefährer Durchschnittswert, der von vielen Faktoren abhängt:

Das Bild dient nur als dekoratives Element und zeigt eine Nahaufnahme von einer lächelnden Frau.
Foto: twenty20photos / Envato Elements

1. Kontext: Wie viel weiß die „Leserin“ über die weiteren Zusammenhänge? Wenn das Thema zum Beispiel „Frühstück“ oder „Backen“ ist, wird das Mundbild im anfangs erwähnten Beispiel wohl für „Butter“ stehen. Aber vielleicht kommt auch die Mutter zum Frühstück vorbei? Bei klarem Kontext kann vieles verständlich sein, so etwa beim Fußball. Viele Trainer:innen und Spieler:innen decken inzwischen ihren Mund ab, wenn sie Anweisungen geben oder etwas besprechen, als Schutz gegen professionelle „Lippenleser:innen“. Das heißt jedoch nicht, dass Lippenlesen eine lernbare, zuverlässige Fähigkeit ist.

2. Talent: Sie hängt auch davon ab, wie begabt eine „Leserin“ im Kombinieren ist. Die verbliebenen 70 % bei unserem Durchschnittswert sind nämlich reine Kombination. Die „Leserin“ muss alle Wege, die ein Satz einschlagen kann, sich offen halten und aus diesen Möglichkeiten die passende Lösung wählen.

3. Mundbild: Manche Menschen haben ein sehr schlechtes Mundbild, sie nuscheln, oder sie haben einfach schiefe Zähne, einen dichten Bart, alles Faktoren, die daran hindern, die Bewegungen zu interpretieren, die der Mund macht.

Wer trotzdem glaubt, kann sich ja die Tagesschau anmachen, den Ton abschalten und versuchen, die Sprecher:innen zu verstehen: Auch wenn die Leute, welche die Nachrichten verlesen, extra dafür ausgebildet sind, die Meldungen sauber zu verlesen und das Mundbild immer einwandfrei sichtbar ist, wird es nicht möglich sein, alles nur vom Lippenlesen her zu verstehen.

Und selbst wenn: „Lippenlesen“ ist, anders als der Name verspricht, nicht wie Buch- oder Zeitungslesen. Es ist in den allermeisten Fällen sehr anstrengend, sich über einen längeren Zeitraum nur auf Lippen als Kommunikationsmittel zu verlassen. In größeren Runden ist das Lippenlesen sogar schlichtweg unmöglich, weil dann oft durcheinander gesprochen wird und das Thema schnell wechselt. Die Augen können schließlich immer nur einem Lippenpaar auf einmal folgen. Da ist es wesentlich entspannter, wirklich zu lesen — mit unmissverständlichen Buchstaben.

Völlig unwichtig sind die Lippenbewegungen allerdings nicht! In der Deutschen Gebärdensprache sind die Lippen natürlich ein wichtiges Element und sogar bedeutungstragend: So kann eine Gebärde „Politik“, „Technik“, „vorbereiten“ oder auch „Methode“ heißen, je nachdem, welches Mundbild verwendet wird. Doch auch hier gilt: Die Lippenbewegungen sind eine Unterstützung, können aber nie das einzige Kommunikationsmedium sein.

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