Wie beim Ableismus ist Audismus eine diskriminierende Haltung, die ähnlich wie Rassismus und Sexismus eine bestimmte Art zu leben oder zu sein als Standard voraussetzt. Was beim Rassismus der „weiße“ Mensch ist und beim Ableismus der nicht (oder noch nicht) behinderte Körper ist, ist beim Audismus das „normale“ Hören, also die Fähigkeit, Informationen rein akustisch wahrzunehmen.
Audismus diskriminiert dabei logischerweise vor allem taube und schwerhörige Menschen. Der Begriff wurde bereits Mitte der 70er Jahre vom tauben Pädagogen Tom Humphries geprägt und 1992 vom hörenden Forscher Harlan Lane aufgegriffen. Seit Mitte der Nullerjahre findet er verstärkt auch in der deutschen Gehörlosenszene Anwendung. Audistische Haltungen können sich in vielen verschiedenen Ausprägungen ausdrücken. Angefangen beim rein lautsprachlichen Schulunterricht, der Bevorzugung des Cochlea-Implantats (und damit des „normalen“ Hörens) in der Frühförderung und beim HNO-Arzt bis hin zu fehlenden Untertiteln oder Gebärdenspracheinblendungen im Fernsehen oder Kino.
Eine Haltung, die bewusst Audismus vermeidet, würde etwa dafür sorgen, dass Lehrer*innen an Gehörlosenschulen Gebärdensprachen sprechen oder Gebärdensprachen ein normales Unterrichtsfach wie Englisch oder Französisch wären. Ebenso sollte außer Cochlea-Implantaten auch Gebärdensprachkurse von HNO-Ärzt*innen gleichberechtigt verschrieben werden können.
Neben dem Audismus durch hörende Personen gibt es auch internalisierten Audismus bei gehörlosen oder schwerhörigen Einzelpersonen oder Gruppen. So kann es passieren, dass gut die Lautsprache sprechende Hörbehinderte diese Fähigkeit ausnutzen, um besser oder bessere Jobs zu bekommen als ausschließlich Gebärdende. Anders herum können Gehörlose in Gruppen diskriminiert werden, wenn sie die mit der Lautsprache eng verwandte Schriftsprache nicht so gut beherrschen: Etwa wenn Kommunikation in WhatsApp-Gruppenchats nur schriftlich abläuft oder komplizierte Satzbauten nutzt.
Einzelpersonen können sich ebenso quasi selbst audistisch diskriminieren: Etwa indem sie glauben, dass bestimmte Jobs für sie nicht geeignet sind und sie deshalb einen solchen Lebensweg nicht anstreben. Die Diskriminierung in der Community behindert wahrscheinlich am meisten: So werden an Gehörlosenschulen die besser lautsprechenden Schwerhörigen oft gegenüber gehörlosen Erstsprachler*innen bevorzugt, bekommen bessere Noten, machen leichter das Abitur – und nebenher wird das audistische Denken bei den Individuen verfestigt. Dabei hakt es vor allem an der Unfähigkeit der Lehrer*innen, Gebärdensprachen zu sprechen, was auch seinen Ursprung in der Ausbildung hat: Bisher ist es zur Qualifikation als Gehörlosenpädagog*in nicht vorgeschrieben, die Sprache der Schüler*innen zu sprechen!
Wie beim Rassismus das „white privilege“, der Weißheitsvorteil, oder beim Sexismus das „male privilege“, der Männlichkeitsvorteil gibt es auch im Audismus das „hearing privilege“, den Hörvorteil. Diesen haben alle inne, die besser akustisch kommunizieren können, ob es nun schwerhörige, hörende oder gehörlose Menschen sind. Im Idealfall setzen sie ihr Privileg aber für die Gebärdensprachcommunity ein: Etwa Dolmetscher*innen, die ehrenamtlich dolmetschen, ohne sich dabei selber in den Vordergrund zu drängen.